Ein 3-tägiges Führungskräfteentwicklungsseminar mit weiblichen Führungskräften ist zu Ende. Das Seminar war intensiv und berührend. Am dritten Tag setzten wir uns mit der Prävention von Mobbing und sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz auseinander. Wir diskutierten viel über Maßnahmen und Zivilcourage, über das Wegschauen und über Mut. Wir reflektierten, welche bedeutende Rolle Führungskräfte spielen, wenn eine Unternehmenskultur von respektvollem und achtsamem Miteinander geprägt sein soll.
Als ich meine Tasche einpacke, verabschiedet sich eine Seminarteilnehmerin von mir. In ihrer Hand hat sie eine Tüte, ich sehe darin Lebensmittel. Auf meinen fragenden Blick antwortet sie: „Für den Obdachlosen, der unten gleich neben dem Fahrstuhl steht.“ Ich runzle die Stirn, denn mir war niemand aufgefallen, als ich vorhin den Fahrstuhl benutzte. „Er hat keine Schuhe an.“, setzt die Teilnehmerin nach und mein Stirnrunzeln weicht einem ungläubigen Blick. Das Thermometer zeigt minus 10 Grad und die Vorstellung von nackten Füßen auf kaltem Boden lässt mich schaudern. Ich verlasse den Seminarraum und fahre mit dem Fahrstuhl hinunter in das Bahnhofsgebäude, in dessen oberen Etagen DB Training Seminarräume hat.
Unten, in dem kalten, zugigen Gebäude, sehe ich tatsächlich einen 30- bis 40-jährigen Mann mit bloßen Füßen auf dem eiskalten Boden des Bahnhofsgebäudes stehen. Er trägt eine dünne Hose und einen leichten Pullover. In seiner Hand hält er ein Brötchen, das er offensichtlich aus einer Papiertüte genommen hat, die vor ihm steht. Ich erkenne diese als die Tüte meiner Seminarteilnehmerin wieder.
Um den Mann herum hasten Menschen in dicken Jacken und eingemummt in flauschige Schals in die eine oder andere Richtung. Zwei kleine Gruppen von jeweils zwei, drei Menschen stehen etwas abseits von dem Mann und beobachten ihn. Ich verstehe ihre Sprache nicht, empfinde aber die Art, wie sie über diesen Menschen sprechen, als unangenehm und diskreditierend.
Plötzlich löst sich ein Mann aus einer der Gruppen, geht auf die Tüte mit dem Essen zu, greift hinein, nimmt sich eine Birne heraus und geht zu der Gruppe zurück, die ihn feixend begrüßt. Ich bin sprachlos und empört. Der Mann ohne Schuhe und Strümpfe reagiert nicht, tritt nur weiter von einem Fuß auf den anderen, den Blick auf den Boden gerichtet. Seine dünnen halblangen dunklen Haare hängen ihm ins Gesicht. Er wirkt auf mich nicht, wie jemand, der es gewöhnt ist, „draußen“ zu leben. Er wirkt eher verwirrt und verloren. Ich schaue genauer hin und sehe, dass seine nackten Füße schwarz sind, doch sie sind es nicht durch Dreck oder Schmutz. Die Haut seiner Füße ist großflächig erfroren, kompakte Erfrierungen lassen sie dunkel aussehen. Als ich das realisiere, fühle ich mich auf einmal auch verloren. Ich gehe auf den Mann zu, spreche ihn an, er reagiert nicht. Die beiden Menschengruppen haben mich im Visier. Sie flüstern sich etwas zu und ich fühle mich unwohl. Ich gehe vor den Bahnhof. Was tun?
Zuerst rufe ich die Polizei an, erkläre die Situation, frage nach, was ich nun tun soll, wer zuständig ist. Ein wirklich netter junger Beamter überlegt kurz mit mir gemeinsam und schlägt vor, dass ich die Feuerwehr alarmiere. Das tue ich dann auch. Bei der 112 dauert es länger, bis jemand rangeht – vielleicht 8 – 10 Minuten. Ich muss kurz darüber nachdenken, wie es mir wohl gehen würde, wenn dies ein Notfall wäre, in dem Leben und Tod auf der Kippe ständen. Wenn ich für eine Person um Hilfe bitten würde, die gerade einen Herzinfarkt hat oder einen Schlaganfall. Mir huscht es durch den Kopf, wie groß der Bedarf nach Rettungseinsätzen und wie unterbesetzt das Personal sein muss, wenn die Wartezeit bei dieser Notrufnummer so lange ist.
Es meldet sich einer sehr fokussierte, aber nette Frau, die mich gleich standardisiert und präzise nach Krankheitsort und Situation abfragt. Ich versuche verständlich zu machen, weshalb ich anrufe. Erzähle, dass ich bereits mit der Polizei telefoniert habe, erzählt von der Verwirrung des Mannes und den Erfrierungen an den Füßen, konkretisieren noch mal den Ort. Die Frau auf der anderen Seite der Leitung wird auf einmal weich. Sie sagt, dass sie jemanden schicken wird und bedankt sich bei mir. Ich bedanke mich auch bei ihr.
Als ich später zu Hause in meinem mit Kerzen beleuchteten, warmen Wohnzimmer sitze, einen wundervollen Kartoffelauflauf in meinem Magen, meinen kuscheligen Hund an der Seite und eine Decke über meinen Knien, muss ich die Situation wie zwanghaft immer wieder in meinem Kopf Revue passieren lassen. Ich sehe diesen verwirrten Mann in dünner Kleidung mit erfrorenen Füßen in dem kalten Bahnhofsgebäude stehen, um ihn herum Menschen, die ihn entweder nicht sehen oder ihm sogar noch schaden wollen. Ich weiß nicht, welchen schmerzvollen Weg dieser Mensch gegangen ist, der ihn in diese Bahnhofshalle geführt hat. Und ich bin einfach nur dankbar über jedes kleine Detail meines warmen Zuhauses. Und über mein Leben, in dem ich nicht wegschauen werde.
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